Springe direkt zu Inhalt

„Zahnlose Zeit? Die (Über-)Zeitlichkeit des Torso Belvedere als Beziehungsgeschichte“: Aufsatz von EXC 2020-Mitglied Anna Degler in „Asynchronien: Formen verschränkter Zeit in der Vormoderne“ (2022)

News from Nov 14, 2022

In ihrem Aufsatz entfaltet Anna Degler das komplexe Rezeptionsgeschehen um eine der bekanntesten antiken Skulpturen, den sogenannten Torso Belvedere, als Beziehungsgeschichte. Dabei werden Mechanismen offengelegt, die dem fragmentierten marmornen Männerkörper seine Stabilität und Überzeitlichkeit im Kanon (bis heute) gesichert haben. Gleichzeitig werden Momente ganz spezifischer Zeitlichkeiten und Brüche im Kanonisierungsgeschehen untersucht. Die mediale und materielle Mobilität des Torso Belvedere in frühneuzeitlichen Diskursen wird so als eine Verflechtungsgeschichte von Schrift- und Bildkulturen fassbar: Seit dem 15. Jahrhundert materialisierte sich der späthellenistische Torso ständig neu in verschiedensten Medien wie Zeichnung, Malerei, Druckgraphik, Skulptur und Literatur. Dabei machte er immerfort Angebote in Hinblick auf Körperlichkeit, Geschlecht, Materialität und damit auch Temporalität.

Der Aufsatz beleuchtet wie, anders als bisher angenommen, der Torso als antikes Fragment in der Frühen Neuzeit keineswegs nur in Hinblick auf Vergangenheit und Vergänglichkeit rezipiert wurde, sondern auch in Relation zu Vorstellungen von Gegenwärtigkeit, Lebendigkeit, Intimität, Zukünftigkeit und Überzeitlichkeit gesetzt wurde.

Wie die verschiedenen Fallstudien deutlich machen, ist für den Torso das Moment der Wahrnehmung von Versehrtheit, die in einem medialen und materiellen Transformationsprozess scheinbar überwunden wird, von besonderer Relevanz. Erzählt als Beziehungsgeschichte, muss dieser Vorgang allerdings nicht länger an stabile Epochenkonstruktionen gebunden werden, um so etwa das Verhältnis von ‚Vormoderne‘ und ‚Moderne‘ zur ‚Antike‘ über eine scheinbar spezifische Ästhetik des Fragments gegeneinander auszuspielen. In ihrem Ansatz geht Degler vielmehr davon aus, dass der Wert von Fragmenten in Gemeinschaften immer wieder neu mit Bezug auf spezifische Konzepte von Ganzheit (bspw. Geschichtsmodelle, Körperkonzepte oder Werkbegriffe) ausgehandelt wird.

Der Aufsatz ist 2022 in dem gemeinsam von Jutta Eming und Johannes Traulsen herausgegebenen Band „Asynchronien: Formen verschränkter Zeit in der Vormoderne“ in der Reihe ‚Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung‘, Band 27, erschienen.

Weitere Informationen auf der Seite der Vandenhoeck & Ruprecht Verlage: https://www.vr-elibrary.de/doi/abs/10.14220/9783737014892.249 

41 / 100