Hans Blumenbergs Beobachtungen zur Metapher der nackten Wahrheit (postum 2019) rekonstruieren an Nietzsche eine im wörtlichen Sinne komplexe Idee von Kultur: Ihr zufolge basiert Kultur auf dem Mechanismus einer verdoppelten Verbergung. Die fundamentale Verschleierung von Dingen muss, damit sie funktioniert, selbst noch einmal verhüllt werden. Verschleierung entfaltet in dieser Vorstellung erst dann ihren Schutz, wenn sie als solche unkenntlich gemacht resp. im Verborgenen gehalten wird. Der Status der Verhüllung ist also denkbar paradox: Damit sie ihre Aufgabe erfüllt und nicht selbst aufgehoben wird, muss sie in einer abwesenden Präsenz gehalten werden. Es ist diese paradoxe Seins- und Wirkungsweise einer konstitutiven Abwesenheit, die mit dem Begriff der Latenz bezeichnet ist. Die Eigentümlichkeit des Latenten besteht darin, dass es weder vollständig aufgedeckt noch gänzlich verwirklicht werden kann; gerade in dieser irreduziblen Verborgenheit aber eine – oft umso stärkere – Wirkung entfaltet. Versuche, Latenz zu definieren, führen unweigerlich zu paradoxen Formulierungen wie etwa der von einer "akut gegebenen Ungegenwärtigkeit". Aus ihr spricht die Notwendigkeit, eine noch nicht vorhandene Beschreibungssprache für das Nicht-Phänomenale zu (er-)finden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Rede vom Latenten oft zu Bildern greift (greifen muss), die ihre Veranschaulichungsleistung auf mehr oder weniger markierte Weise überschreiten. Als Gegenstand der (sprachlichen) Darstellung produziert Latenz mithin Katachresen, in denen ihr eigentümliches Entzogensein sich gleichsam symptomatisch bekundet. Dieses Heft präsentiert die Ergebnisse eines Workshops, der es unternommen hat, solche Katachresen der Latenz unter verschiedenen disziplinären Perspektiven vertiefend zu erkunden: Rhetorik, Ästhetik und Geschichte.