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Wir schauen auf diese Stadt! Literarische Begegnungen mit Berlin um 1989

"Wir schauen auf diese Stadt!"

"Wir schauen auf diese Stadt!"
Image Credit: Gestaltung: Hanna Zeckau/Kiosk Royal

Hören Sie nach, wie internationale Autorinnen und Autoren den Mauerfall erlebten. Im November 2019 veranstaltete das Projekt »Writing Berlin« einen Workshop anlässlich des 30. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer. Interviewt wurden Wahlberliner*innen aus Argentinien, Rumänien, Ungarn, Serbien und Frankreich, die sich an ihre persönlichen Eindrücke und Erfahrungen zur Zeit der Wende erinnerten.

Eine Veranstaltung des Projekts »Writing Berlin« der Research Area 4 »Literary Currencies« im EXC 2020 »Temporal Communities« in Zusammenarbeit mit dem Literarischen Colloquium Berlin am 6. & 7. November 2019.

Auf dem Höhepunkt der Berlin-Blockade im September 1948 richtete Ernst Reuter, der spätere Regierende Bürgermeister, den Appell an die Westmächte, die Stadt nicht aufzugeben: »Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!« Vierzehn Jahre später, 1962, fand der mittlerweile berühmte gewordene Satz »Schaut auf diese Stadt!« abermals Verwendung: als Titel eines DEFA-Dokumentarfilms, der zum Jahrestag des Mauerbaus in die DDR-Kinos kam und der die Schließung der innerdeutschen Grenze propagandistisch rechtfertigte. »Schaut auf diese Stadt« – mit diesem Appell verbindet sich also das ganze Spektrum der konkurrierenden Perspektiven auf Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor allem steht dieser Imperativ für die Aufforderung an die Welt, im Blick auf Berlin die jeweiligen politischen und ideologischen Perspektiven zu übernehmen.

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1989 musste man niemanden mehr auffordern, auf diese Stadt zu schauen: Die ganze Welt blickte nach Berlin. Für einen historischen Moment schien sich der Antagonismus der beiden politischen Systeme in Wohlgefallen aufzulösen … Aufgelöst hat er sich, wenn auch nicht in Wohlgefallen. Mit dem Fall der Berliner Mauer vollzog sich ein Weltenwechsel, unter dessen Vorzeichen die Geschichte seither steht. Noch einmal dreißig Jahre später schauten wir erneut auf diese Stadt und fragten internationale Literaturschaffende, die sich um oder seit 1989 kürzer oder länger in Berlin aufhielten oder sogar dorthin gezogen sind, nach der Bedeutung jenes Schlüsseljahres und der Entwicklung der Stadt seither. Wie haben internationale Autor*innen Berlin um und seit 1989 wahrgenommen?

Vorbemerkung: Die nachstehenden Audiofassungen geben die Gespräche in gekürzter Form wieder.

Esther Andradi (Berlin/Buenos Aires) im Gespräch mit Susanne Klengel

Esther Andradi wurde in einem Dorf der argentinischen Provinz geboren. Nach einem Publizistikstudium ging sie 1975 nach Lima, wo sie als Journalistin arbeitete und sich als Feministin engagierte. Seit Anfang der 1980er Jahre lebt Esther Andradi überwiegend in Berlin. Sie hat Zeitungsreportagen und Chroniken, einen Roman, Erzählungen, Mikrofiktionen und Gedichte veröffentlicht und darüber hinaus mehrere Anthologien betreut.

Als Schriftstellerin und Journalistin ist sie seit ihrer Ankunft im damaligen Westberlin eine genaue Beobachterin der Stadt im Wandel. Am 9. November 1989 überraschte sie der Mauerfall im Theater [Einstieg 2]. Dieses Ereignis wurde rasch zu einem tagtäglichen Thema für die Journalistin, die darüber kontinuierlich nach Lateinamerika berichtete.

In dem Roman Die drei Verräterinnen (2018, spanisch 2007) liest man, wie Betty, die lateinamerikanische Schriftstellerin, Anfang der 1980er Jahre in Berlin ankommt und eine faszinierend neue Welt entdeckt [Einstieg 3]. Esther Andradi schrieb diesen Berlinroman auch als Erinnerung und Hommage an die Berliner Frauenbewegung, der sie selbst nahestand [Einstieg 4].

Esther Andradi

Esther Andradi
Image Credit: LCB

Die journalistischen »Chroniken« Andradis sind in dem Buch Mein Berlin. Streifzüge durch eine Stadt im Wandel (2019, spanisch 2015) zusammengefasst. Sie bilden ein Mosaik aus höchst unterschiedlichen Geschichten, die sich rund um den Mauerfall besonders verdichten. Berlin als Stadt im Umbruch und seine vielfältigen Bewohner*innen sind Andradis Thema, anschaulich dargestellt etwa bei einer U-Bahnfahrt durch die »Geisterbahnhöfe«, die durch die Vereinigung wieder zugänglich wurden [Einstieg 5].

Zwischen 1995 und 2003 lebte Esther Andradi erneut in Buenos Aires, einer kulturell höchst lebendigen Metropole. Nach ihrer Rückkehr wandte sie sich, geprägt von den Erfahrungen der argentinischen Krise im Jahre 2001, wieder der Stadt Berlin zu [Einstieg 6]. Bis heute hat Berlin trotz und wegen aller Veränderungen für die Autorin sein Faszinosum bewahrt.

Wilfried N’Sondé (Paris) im Gespräch mit Ulrike Schneider

Wilfried N’Sondé

Wilfried N’Sondé
Image Credit: LCB

Wilfried N’Sondé, 1968 in Brazzaville in der Republik Kongo geboren, zog 1973 mit seinen Eltern nach Frankreich und wuchs in einem Pariser Vorort auf. Er studierte in Paris Politikwissenschaften und kam 1989 zum Mauerfall nach Berlin, um »zu beobachten, was dort los war«. Kurz danach, 1991, zog er in die Stadt und lebte dort 25 Jahre lang. – Seine Romane wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Prix Senghor und dem Prix des cinq continents de la francophonie.

2015 erschien N’Sondés Roman Berlinoise (Actes Sud). Die Großstadt bietet die hier Kulisse für eine Liebesgeschichte zwischen dem Franzosen Stan und Maya, der Tochter einer Ostdeutschen und eines Kubaners, die geprägt ist von der Aufbruchsstimmung der Wendezeit mit all ihren Hoffnungen und Sehnsüchten, aber auch von einer zunehmenden Bedrohung durch den aufkommenden Rechtsradikalismus. N’Sondé betont, seine Erfahrungen in Berlin zur Zeit des Mauerfalls hätten seinem Leben eine neue Orientierung gegeben; zugleich war es ihm wichtig, auch über negative Erfahrungen zu schreiben, denn in der ersten Euphorie sei manches verdeckt und nicht verarbeitet worden, was später offensichtlich wurde. Dies wird gerade im Rückblick deutlich, aus dem heraus der Roman diese erste Phase von 1989 bis Mitte 1991 schildert [Einstieg 1]. – Seine eigene Ankunft in Berlin und die erste Phase nach dem Mauerfall schildert Wilfried N’Sondé als eine Mischung aus Euphorie und Angst, die sich schnell breit machte [Einstieg 2].

Der Titel des Romans, Berlinoise, ist bewusst vieldeutig gewählt, und der Roman erzählt nicht nur eine Liebesgeschichte in Berlin, sondern ist auch eine Liebeserklärung an Berlin, zu genau diesem Zeitpunkt des Auf- und Umbruchs – es gehe um »eine Möglichkeit von Berlin«, betont N’Sondé und bezieht dies zunächst auf die ganze Stadt, wenngleich sich für ihn der Radius rasch einschränkte [Einstieg 3].

Dass mit Stan ein Franzose die männliche Hauptfigur des Romans ist, will N’Sondé nicht für speziell erachten; es handele sich um eine ganz normale ›Ost-West-Beziehung‹ [Einstieg 4]. Für die Gestaltung der Figur der Maya, deren Haut etwas dunkler ist, interviewte er hingegen ›afroostdeutsche Frauen‹, um deren spezifische Erfahrungen zu erfassen [Einstieg 5]. Die Existenz anderer, neuer Mauern erkannte auch Wilfried N’Sondé retrospektiv klarer als im Moment des Umbruchs selbst; vielleicht aber sei es weniger um den Prozess einer Desillusionierung gegangen als vielmehr um den Verlust des anfänglichen naiven Glaubens an eine bessere Welt und die Erkenntnis, einander allererst kennenlernen zu müssen [Einstieg 6].

Im Roman erleben die Figuren die Phase von 1989 bis 1991 angesichts zunehmender Fremdenfeindlichkeit und gewalttätiger Übergriffe einerseits mit wachsender Angst und andererseits als einen politisch-sozialen Lernprozess [Einstieg 7]. Die fiktive Liebesgeschichte zwischen Maya und Stan ist durchsetzt mit realen Daten, Fakten und Ereignissen aus dieser Zeit. Die Figur des jungen Franzosen Stan durchläuft einen Prozess politischer Bewusstwerdung und lernt, wie wichtig es ist, bei Gewalt genau hinzuschauen und ebenso präzise zu benennen, was sich ereignet. Und zugleich liest man diese Passagen des Romans heute immer mit dem Wissen um gegenwärtige Radikalisierungen, die bereits kurz nach dem Mauerfall manifestiert wurden, damals aber viel zu wenig Beachtung fanden [Einstieg 8].

Die Erfahrungen in Berlin nach 1989 möchte N’Sondé nicht missen; die Stadt, in der er ein Vierteljahrhundert lang lebte, hat ihn geprägt, mit ihrer Vitalität, ihren kreativen Impulsen und ihrer alternativen Szene. Sie hat ihm ein Gefühl von Freiheit vermittelt – bis hin zum Umgang mit der französischen Sprache [Einstieg 9].

Carmen-Francesca Banciu (Berlin) im Gespräch mit Jasmin Wrobel

Carmen-Francesca Banciu

Carmen-Francesca Banciu
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Carmen-Francesca Banciu wurde 1955 in Lipova, Rumänien geboren und lebte bis zu ihrem 35. Lebensjahr in Bukarest. 1990 kam sie das erste Mal nach Berlin und kehrte 1991 als Stipendiatin des Künstlerprogramms des DAAD in die Stadt zurück. Berlin wurde fortan zu ihrem Hauptwohnsitz – und Deutsch bald auch zu ihrer Literatursprache. Carmen-Francesca Banciu wurde für ihr Werk international mit zahlreichen Stipendien und Literaturpreisen ausgezeichnet. Zurzeit lebt sie als freischaffende Autorin, ist Dozentin für Kreatives Schreiben und zudem Mitherausgeberin und stellvertretende Direktorin des transnationalen Online-Magazins LEVURE LITTÉRAIRE.

In ihrem autobiografischen Erzählband Berlin ist mein Paris. Geschichten aus der Hauptstadt, erschienen 2002 im Ullstein Verlag (neu aufgelegt im Verlag PalmArtPress, 2017), thematisiert Banciu in 44 Kurz- und Mikroerzählungen ausgehend vom Mauerfall und der Rumänischen Revolution ihre erste Reise durch Europa, die Ankunft in Berlin und ihre Sicht auf die Entwicklung der Stadt in den Jahren nach der Wiedervereinigung. Das Jahr der Wende, in dem sie – nach dem Fall Ceaușescus Ende Dezember 1989 – Rumänien das erste Mal verlassen konnte, erschien der Autorin als eine Art »Exposé für die Zukunft«, als ein Jahr, in das mehrere Jahre, mehrere Leben auf einmal gepresst wurden [Einstieg 1].

Berlin wurde für Carmen-Francesca Banciu symbolisch zu dem Ort ihrer neuen Freiheit, den sie deshalb auch als erstes besuchen wollte. Das Ausmaß der jahrzehntelangen gewaltsamen Trennung wurde ihr während dieser ersten Reise durch mehrere europäische Länder erst spürbar bewusst, als sie zusammen mit ihren Begleiter*innen den Checkpoint Charlie erreichte: Als rumänische Bürgerin musste sie hier den Wagen verlassen und zu Fuß von West- nach Ostberlin laufen [Einstieg 2].

Der Checkpoint Charlie, den Banciu in ihrem Buch als »offene Wunde, die immer noch eitert«, als »das zerrissene Herz von Berlin« und als Ort, an den Tourist*innen kommen, um »den Puls der Welt zu checken« beschreibt, wird für die Schriftstellerin zu einem Herzstück ihrer Literatur, die Cafés rund um den Checkpoint – insbesondere das Adler und das Sale e Tabacchi – werden zu den Orten ihres Schreibens. Nur hier, in unmittelbarer Nähe der ehemaligen Grenze, wurde die Tragik der Teilung der Stadt und der deutschen Geschichte für sie als Autorin greifbar. Gleichzeitig dienten ihr die Cafés als Beobachtungsstandorte, von denen aus sie die Veränderungen der Stadt und ihrer Menschen verfolgte und dokumentierte. Außerdem wurden sie für Carmen-Francesca Banciu auch zu Sprachlaboren [Einstieg 3].

Die Autorin kam nach Berlin, wie sie selbst in der Titelgeschichte ihres Erzählbandes schreibt, »wie man früher nach Paris kam«, »um [sich] mit der Welt zu messen« – und doch ging sie sich zunächst selbst verloren [Einstieg 4]. Berlin verstand sie dabei auch als Ausdruck der entstehenden Gegenwart, als einen Ort, an dem sie die eigene Vergangenheit verarbeiten und hierfür eine neue Sprache finden konnte [Einstieg 5].

Hören Sie hier in voller Länge das gemeinsame Gespräch zwischen Esther Andradi, Wilfried N’Sondé und Carmen-Francesca Banciu, moderiert von Sigrid Brinkmann.

György Dalos (Berlin) im Gespräch mit David Wachter

György Dalos

György Dalos
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György Dalos wurde 1943 in Ungarn geboren. Er ist Dichter, Historiker, Romancier, Publizist und in alldem ein intellektueller Grenzgänger zwischen Ost und West. Nach einem Studium der Geschichte in Moskau kehrte er in den 1970er Jahren zurück nach Budapest, wo er wegen »maoistischer Umtriebe« zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde und teilweise Berufs- und Publikationsverbot erhielt. Als Mitbegründer der Opposition wurde er zu einem der bekanntesten Dissidenten im kommunistischen Ungarn. Im Jahr 1984 kam er mit einem Stipendium des DAAD-Künstlerprogramms nach Berlin und lebte ab 1987 für einige Zeit in Wien, bevor er sich 1995 dauerhaft in Berlin niederließ. Er war von 1995 bis 1999 Leiter des »Hauses Ungarn«; 2010 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung.

Bereits während seiner Zeit in Budapest begann György Dalos damit, Westeuropa in kürzeren Reisen zu erkunden [Einstieg 1]. Berlin war für ihn nicht nur wegen zahlreicher Freundschaften wichtig, sondern auch wegen seiner Institutionen, darunter insbesondere das Berliner Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) [Einstieg 2]. Als er im Jahr 1984 im Rahmen dieses Programms nach Berlin kam, überwältigten ihn die Lichter der Großstadt derart, dass er noch abends zur Sonnenbrille griff [Einstieg 3]. Was die Stadt in seinen Augen besonders ausmachte, war das »freundliche Chaos« im alltäglichen wie künstlerisch-intellektuellen Leben.

Als sich um 1989 eine Veränderung besonders im Ostblock ankündigte, beobachtete Dalos hellsichtig, dass »die Uhren in den Bruderstaaten unterschiedlich schnell tickten« [Einstieg 4]. Wie verschieden sich das Ende der Diktaturen in den Ländern des Ostblocks gestaltete, untersucht er in seiner vergleichenden Studie Der Vorhang geht auf (2009) mit profunder Kenntnis der osteuropäischen Mentalitätsgeschichte, essayistisch pointiert und mit ironischem Gespür für die absurden Seiten des Lebens im kommunistischen Ungarn.

Die Zeit unmittelbar nach dem Mauerfall erlebte Dalos in Berlin. Eindrücklich schildert er seine Wahrnehmung der Umbrüche im Alltagsleben, darunter denkwürdige Erlebnisse der Silversternacht 1989, als das Absingen verschiedener Nationalhymnen bei Freunden in einem »tränenreichen Lachanfall« [Einstieg 5] endete.

Pascale Hugues (Berlin) im Gespräch mit Jutta Müller-Tamm

Pascale Hugues

Pascale Hugues
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Pascale Hugues wuchs in Straßburg auf, studierte Journalismus und arbeitete in London, bevor sie im September 1989 als Korrespondentin für die Zeitung Libération nach Berlin kam [Einstieg 1]. Sie blieb, um seither für französische Medien über die nicht mehr geteilte Stadt und das wiedervereinigte Deutschland zu berichten. Vielen Berliner*innen ist sie als Kolumnistin des Tagesspiegel bekannt, die regelmäßig über ihr Berlin, »mon Berlin« schreibt; eine Auswahl dieser Kolumnen erschien 2009 unter dem Titel In den Vorgärten blüht Voltaire. Sie wurde mit dem deutsch-französischen Journalistenpreis, dem Prix Simone Weil und dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet.

In dem 2008 veröffentlichten Buch Marthe und Mathilde. Eine Familie zwischen Frankreich und Deutschland erzählt Pascale Hugues von der in den frühen Kindertagen beginnenden Freundschaft ihrer Großmütter, beide 1902 in Colmar im Elsass geboren, von denen die eine einer deutschen, die andere einer französischen Familie entstammte, eine Freundschaft, die alle drastischen Wechselfälle der deutsch-französischen Geschichte und beide Weltkriege überdauerte. Diese Herkunft erscheint wie ein Auftrag, die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen zum eigenen Lebensthema zu machen. Für Pascale Hugues lag dabei das seit jeher bekannte (und eher unsympathische) Deutschland im Westen, genauer in Baden-Württemberg, der sehr viel interessantere Teil hingegen war ihr die DDR, die sie bereits in ihrer Studienzeit besuchte [Einstieg 2].

In ihrer Berliner Zeit erkundete Pascale Hugues zuerst den Ostteil der Stadt; »ihr« Berlin verschob sich aber im Lauf der Jahre Richtung Westen. Welches waren die wichtigsten Orte für sie? [Einstieg 3] Mit ihrem 2013 erschienen Buch Ruhige Straße in guter Wohnlage – Die Geschichte meiner Nachbarn setzte sie der Schöneberger Straße, in der sie seit den 1990er Jahren lebt, ein Denkmal: In der auf den ersten Blick unspektakulären Straße mit ihrer typischen Mischung aus gründerzeitlichen Häusern und zweckmäßigen Nachkriegsbauten kristallisieren sich die historischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in den Lebenslinien der Bewohner wie in den architektonischen und städtebaulichen Wandlungen. Nicht zuletzt zeigen sich auch hier die Prozesse der Gentrifizierung, wie sie für die neuere und neueste Entwicklung Berlins kennzeichnend sind [Einstieg 4].

Hören Sie hier in voller Länge das gemeinsame Gespräch zwischen György Dalos und Pascale Hugues, moderiert von Jutta Müller-Tamm und David Wachter.

Bora Ćosić (Berlin) im Gespräch mit Alida Bremer

Bora Ćosić

Bora Ćosić
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Der Dichter, Romancier und Essayist Bora Ćosić, geboren in Zagreb, lebte bis in die 1990er Jahre in Belgrad. 1992 verließ er Serbien aus Protest gegen die dortigen politischen Verhältnisse unter Slobodan Milošević, lebte fortan teils im istrischen Rovinj, und seit einem längeren Aufenthalt im Rahmen eines DAAD-Stipendiums 1995 auch fortwährend in Berlin. Sein Werk umfasst mehrere Romane, Gedicht- und Erzählbände sowie Essays [Einstieg 2]. Wenngleich er sich als einer der letzten Schriftsteller des Serbokroatischen versteht, lehnt Ćosić jede nationale Ausrichtung von Literatur strikt ab – sein Werk ist mithin in viele verschiedene Sprachen übersetzt worden. International bekannt wurde sein großer Erzähltext Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution, der trotz seiner Popularität(z.B. Preis der Belgrader Zeitschrift NIN) 1969 in Serbien verboten wurde und erst 1994 in deutscher Übersetzung erschien.

1969 war auch das Jahr, in dem Ćosić im Rahmen einer serbischen Delegation den Ostteil Berlins zum ersten Mal erlebte – als eine »schwermütige, graue Stadt« habe er sie zunächst empfunden; für ihn als potentiellen Wohnort wenig attraktiv [Einstieg 3]. Erst nach der Wende lernte er Berlin im Rahmen seines Aufenthalts im DAAD-Künstlerprogramm zu schätzen – seinem späteren Wohnhaus in der Charlottenburger Mommsenstraße, das er rückblickend als zweiten Geburtsort bezeichnet, widmete er einen Band mit Kurzessays (Lange Schatten in Berlin, 2014) [Einstieg 4]. Die wiedervereinte Stadt ist seit damals mit seiner Heimat Belgrad eng verbunden [Einstieg 5]. Die kulturelle Nähe beider Orte beschreibt Ćosić detailreich, die Straßenzüge Charlottenburgs erkennt er aber auch in vielen anderen Städten des »kleinen Kontinents Europa« wieder: »Egal, wo ich bin, suche ich nach diesen Straßen« – Berlin ist für ihn so zu einer zweiten Heimat geworden. Ihr ist auch der nachdenkliche Gedichtband Die Toten. Das Berlin meiner Gedichte (2001) gewidmet [Einstieg 6].

Ćosićs Texte sind von einem präzisen Blick für kleine Details und einem unerschöpflichen Wissen mannigfaltiger Facetten der europäischen Kulturen geprägt, welcher weniger die Unterschiede, sondern vor allem die Gemeinsamkeiten der Städte und Länder, der Lebens- und Kulturräume betont [Einstieg 7]. Der russische bzw. ehemals sowjetische Raum wird dabei dezidiert einbezogen: Vor allem mit der serbischen bzw. ex-jugoslawischen Kultur beobachtet Ćosić enge Verflechtungen; auch den Spuren russischer Emigrant*innen in Berlin geht er immer wieder nach [Einstieg 8]. Ganz im Modus dieser geteilten Geschichte/n ist auch seine Aufforderung zu verstehen, Staaten nicht vorschnell aufgrund ihrer temporären Regierungen aus dem europäischen Dialog auszuschließen [Einstieg 9]. Die Nähe und wechselseitige Beeinflussung der europäischen Kulturen, ihr nie versiegendes Gespräch, bildet somit einen roten Faden im Berlin-geprägten Werk von Bora Ćosić, das auch den Leser*innen seiner Artikel in der europäischen Zeitschrift Lettre International wohl vertraut ist. Nicht zuletzt aus diesen Gründen wurde er 2002 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.





Fotografien: LCB, Susanne Klengel, Jasmin Wrobel
Ton/Schnitt: Luise von Berenberg-Gossler
Redaktion: Lukas Nils Regeler

Literatur

Andradi, Esther: Die drei Verräterinnen. Roman. Übersetzt von Christiane Quandt. Berlin: KLAK Verlag 2018.

Andradi, Esther: Mein Berlin. Streifzüge durch eine Stadt im Wandel. Übersetzt von Margrit Klingler-Clavijo. Berlin: KLAK Verlag 2016.

Banciu, Carmen-Francesca: Berlin ist mein Paris. Geschichten aus der Hauptstadt. Berlin: Ullstein 2002.

Ćosić, Bora: Lange Schatten in Berlin. Mit zahlreichen Fotografien von Lidija Klasić, Nachwort von Herbert Wiesner, aus dem Serbischen übersetzt von Brigitte Döbert. Frankfurt am Main: Schöffling 2014.

Ćosić, Bora: Die Toten. Das Berlin meiner Gedichte. Aus dem Serbischen von Irena Vrkljan und Benno Meyer-Wehlack. Berlin: DAAD 2001.

Dalos, György: Mit, gegen und ohne Kommunismus. Erinnerungen. Übersetzt von Elsbeth Zylla. München: C.H. Beck 2019.

Hugues, Pascale: Ruhige Straße in guter Wohnlage. Die Geschichte meiner Nachbarn. Übersetzt von Lis Künzli. 2. Aufl. Reinbek/H.: Rowohlt 2013.

Hugues, Pascale: Marthe und Mathilde. Eine Familie zwischen Frankreich und Deutschland. Übersetzt von Lis Künzli.Reinbek/H.: Rowohlt 2008.

N’Sondé, Wilfried: Berlinoise. Roman. Arles: Actes Sud 2015. Die gelesenen Passagen basieren auf der dt. Übersetzung durch Studierende des Romanischen Seminars der Universität Kiel im Rahmen eines Workshops 2017 unter der Leitung von Dr. Margarete Mehdorn.

N’Sondé, Wilfried: Le cœur des enfants léopards. Roman. Arles: Actes Sud 2007.