Workshop | Naming, Blaming, Shaming. Historische Tiefenbohrungen und aktuelle Beobachtungen zu Schmähpraktiken vom Zeitalter der Kritik bis zu den Sozialen Medien
Organisiert von Cornelia Ortlieb und Anita Traninger, Projekt Digital Constructions of Authorship, Research Area 4: "Literary Currencies".
Eventsprache: Deutsch
Das Beschämen, Beschimpfen und Beschuldigen erfährt in den Sozialen Medien ganz neue Dimensionen, von der nahezu beiläufigen Mikroaggression bis zum sogenannten shit storm. Dabei sind die Praktiken, die diese Phänomene unterfüttern, durchaus nuanciert: Naming meint nicht allein das Beschimpfen (name-calling), sondern auch das simple Bezeichnen, das allerdings von der irreführenden Etikettierung bis zur subtilen Unterminierung gehen kann. Blaming bezieht sich auf Formen der Schuldzuweisung, Anschuldigung, aber auch der Anklage und des Vorwurfs, gerade dort, wo sich Verantwortlichkeiten und agency als ambig oder gar prekär erweisen. Die komplexeste Praktik ist jene des Beschämens, die an alte Formen der Schand-Darstellung anknüpft und heute zugleich am radikalsten gegendert ist.
Eine ganze Taxonomie von Praktiken (trolling, doxing, gaslighting, cancelling, etc.) ist hinsichtlich ihrer Bezugsfelder und Reichweiten noch gar nicht kartiert, hat aber interessanterweise bereits Eingang in die neuere und neueste Literatur gefunden. Uns interessiert insbesondere die genderedness dieser Praktiken zwischen Bild und Text, explizit und subkutan, plattform- und genrespezifisch. Dass in der Aufmerksamkeitsökonomie der Sozialen (und anderer) Medien Empörung oder gar Hass die Währung schlechthin sind, auf die alle Algorithmen und Programmierungen ausgerichtet sind, ist wohl bekannt, aber im Hinblick auf die Mikropraktiken, in die sich dieses Prinzip übersetzt, immer noch zu wenig erforscht. Mit Blick auf Strategien und Praktiken des (öffentlichen) Beschimpfens und der medialen Befeuerung kontroverser Themen bis hin zu neuen, eigentümlichen Streitritualen ist in vergleichender Perspektive neben der Frühen Neuzeit besonders der Blick auf die Zeit um 1800 interessant.
Autorschaft steht damit neu zur Disposition ebenso wie Konzepte von Kollektivität und nicht zuletzt die Frage nach Institutionalität im Sinne des Status von Aussagen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Dieser Themenkomplex hat eine lange historische Genealogie, und auch die Virulenzbereiche kristallisieren sich in Analogie zu, aber eben auch in Devianz von älteren Mustern wie etwa den Praktiken und Medien der öffentlichen Zurschaustellung, des ‚Anprangerns‘ oder der rituellen Bestrafung ‚in effigie‘ in der frühen Moderne heraus.
Der Workshop erörtert in Impulsvorträgen und Werkstattgesprächen die historische Tiefendimension der beschriebenen Phänomene und bringt sie systematisch in neue Konstellationen, wobei die Fallstudien von der Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit bis zur neuesten (Internet-)Literatur reichen.
Programm
Donnerstag, 26. Oktober14:00-14:15 | Begrüßung und Einführung
14:15-15:15 | Anita Traninger: Naming, Blaming, Shaming: Digitale 'novantiquitates'
15:15-16:15 | Florian Fuchs: Die Abwehrkräfte der Scham 1930/2010
16:15-16:45 | Kaffee
16:45-17:45 | Nina Tolksdorf: Kleist, Lasker-Schüler und Hemingways Beine. Naming in der Literatur um 1800, 1910, 2020
17:45-18:45 | Steffen Martus: Entschämung. Praktiken des Peinlichkeitsmanagements im literarischen Feld seit 1989
Freitag, 27. Oktober10:00-11:00 | Kai Bremer: "O zischt den Starrkopf aus!" Männlichkeitsstereotype in der philologischen Kontroverse zwischen Lessing und Lange?
11:00-12:00 | Lea Schneider: Mit der Scham arbeiten: Feministische Traditionen der Selbstentblößung
12:00-13:00 | Lunch
13:00-14:00 | Paul Wolff: "Präraffaelitische Girls (erklären) blamen das Internet". (Phantom-)Memes als Sprachrohr der Kritik
14:00-15:00 | Cornelia Ortlieb: Variationen über Willy. Adressierte Schmäh-Huldigungen in gelegentlichen Versen Mallarmés
Time & Location
Oct 26, 2023 - Oct 27, 2023
Freie Universität Berlin
EXC 2020 "Temporal Communities"
Raum 00.05
Otto-von-Simson-Straße 15
14195 Berlin
Further Information
Felicitas Pfuhl, felicitas.pfuhl@fu-berlin.de