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Tagung | Close Reading

Sep 25, 2023 - Sep 26, 2023

Organisiert von Michael Gamper und Philipp Felsch (Humboldt-Universität zu Berlin), Projekt Circulations of Theory: Topics, Processes, and Histories of a Globalised Form of Writing, Research Area 4: "Literary Currencies".

Dass ganz verschiedene geisteswissenschaftliche Theorien und Methoden aus dem 20. Jahrhundert eine eigentümliche Familienähnlichkeit aufweisen, kam womöglich erst durch ihren Abgesang ans Licht. Es war Franco Moretti, der Komparatist aus Stanford, der der Praxis des close reading kurz nach der Jahrtausendwende ihren theologisch-reaktionären Charakter attestierte. Das starke Echo, das sein als Gegenprogramm konzipiertes distant reading hervorrief, rührte auch daher, dass es einen Gestus, ja ein Ethos in Frage stellte, das die Geisteswissenschaften des vergangenen Jahrhunderts wie kaum ein zweites prägte. Zwar geht der Begriff im engeren Sinn auf den englischen Practical Criticism zurück. Doch auch in der Dekonstruktion, der Frankfurter Schule oder der Mikrogeschichte stößt man auf Formen intensiver Textversenkung, die durch ähnliche Zugriffsweisen, ähnliche Grundannahmen und Intentionen gekennzeichnet sind. Darunter fallen besonders die folgenden auf:

  • Auf der einen Seite ist die Praxis des close reading mit dem Vorhaben einer Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Literatur- und Kulturkritik verknüpft, die gegen ältere Formen geistesgeschichtlicher Virtuosität gerichtet ist. Das gilt etwa für den Practical Criticism I.A. Richards, der das close reading in den 1920er Jahren als Methode für die wissenschaftliche Analyse moderner Lyrik einführt – mit anderer Akzentuierung aber genauso für Roland Barthes' "strukturalistische Tätigkeit", deren Basisoperation darin besteht, einen Text in kleinste Einheiten zu zerlegen.
  • Auf der anderen Seite zeichnen sich viele Verfahren des close reading durch eine mimetische Annäherung von Literaturanalyse und -theorie an ihren Gegenstand aus. Es ist kein Zufall, dass William Empson sich selbst als Lyriker betätigte. Und auch die Dekonstruktion hat nie das Selbstverständnis einer methodisch kontrollierten Wissenschaft ausgebildet. Ihre Attraktivität beruhte vielmehr darauf, eine von charismatischen Lehrerfiguren wie Derrida oder Paul de Man praktizierte idiosynkratische Kunst zu sein.
  • Dadurch stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis des close reading und damit der Art und Weise, wie in den unterschiedlichen Feldern ein Reflexionswissen über die genaue Lektüre gewonnen wird. Ist dieses Wissen eines, das im Vollzug der kritischen Tätigkeit entsteht? Welche Formen der Generalisierung spezifischer Erkenntnisse sind festzustellen? Wie organisieren abstrakte Theorieversuche das Verhältnis zum konkrete Material?
  • Auffällig ist weiter die fundierende Rolle, die die Ästhetik der literarischen Moderne und damit die Privilegierung der Form gegenüber dem Inhalt für Theorie und Praxis des close reading spielen. Die Neigung, "Inhalt" und "Bedeutung" von Texten als sekundäre, abgeleitete Kategorien zu behandeln, dürfte für seine meisten Varianten charakteristisch sein. Die Nähe zum Modernismus zeigt sich darüber hinaus in der Vorstellung von der Opazität, der Autonomie und Eigengesetzlichkeit von Texten, die deren mikroskopische Untersuchung überhaupt erst sinnvoll erscheinen lässt. Daher finden sich in allen Spielarten des close reading Denkfiguren, die die Instanzen von Autorschaft und Werkeinheit suspendieren, von der "intentional fallacy" des New Criticism bis zum "Tod des Autors", den der französische Poststrukturalismus dekliniert.
  • Mit der Abwertung der Autor- hängt die Aufwertung der Leserrolle zusammen: Wenn der Text seinen eigenen Gesetzen gehorcht, ist die Rezeption der Produktion nicht mehr nachgeordnet. Im Gegenteil: Als Methode, um der immanenten Logik des Textes auf die Spur zu kommen, wird gerade die Lektüre zur eminenten Tätigkeit. Dabei haben die Theorien des Lesens, die im Umfeld des close reading ausgearbeitet wurden, zugleich zu seiner Legitimation gedient.
  • Besonders in seinen deutschsprachigen Varianten verweist das close reading auf die grands récits des 20. Jahrhunderts: Benjamins "mikroskopischem Blick" (Susan Sontag) liegt ebenso wie Adornos "bestimmter Negation" das geschichtsphilosophische Bewusstsein zugrunde, dass sich die Totalität der modernen Gesellschaft gerade in den Details einer Ware, eines Kunstwerks oder Textes zeigt. Damit geht das Versprechen einer mathesis singularis (Barthes), einer gegen die universelle Gleichförmigkeit der Cartesischen Epistemologie (und der Warengesellschaft) gerichteten Wissenschaft vom Einzelnen bzw. Einzigartigen einher.
  • Das close reading ist eng mit verschiedenen Praxisfeldern verknüpft. Dazu zählen traditionell die Editionstätigkeit, die mit der critique génétique ein Verfahren des closest reading von Handschriften entwickelt, aber auch die Übersetzung, die im Kontext des close reading eine neuartige Aufmerksamkeit erfährt. Last but not least stellen die Verfahren der Textversenkung eine pädagogische Praxis dar: Die geduldige, gemeinsame Lektüre – im Grunde eine vormoderne Art des Lesens – scheint beinah ihre paradigmatische Form zu sein. So entwickelt Richards seine Lektürepraxis ausdrücklich als Unterrichtsmethode. So verdankt sich Barthes' SZ einem zweijährigen Balzac-Seminar. Auch Peter Szondi entwickelt seine akribischen Lektüren bevorzugt in seinen Lehrveranstaltungen. Die Praxis des close reading ist eng mit der Institution des geisteswissenschaftlichen Seminars verknüpft.

Die Tagung unternimmt den Versuch, die Praxis des close reading in vergleichender Perspektive zu historisieren. Abgesehen von Beiträgen aus/über Literaturwissenschaften und Philosophie sind ausdrücklich auch solche aus/über andere(n) Disziplinen wie Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft vorgesehen. Kombiniert werden exemplarische und thematisch übergreifende Beiträge, die sich auf das umrissene Problemfeld beziehen.

Veranstaltungssprache: Deutsch

Programm

Montag, 25. September 2023

09:30-10:00 | Philipp Felsch, Michael Gamper: Begrüßung und Einführung

10:00-11:00 | Martin Bauer: „lento“. Zur Eigenzeitlichkeit einer philologischen Praxis

11:00-11:30 | Kaffeepause

11:30-12:00 | Martin Endres: Formoffen. Close reading ‚unabgeschlossener‘ Prosa im 20./21. Jahrhundert

12:30-14:00 | Mittagspause

14:00-15:00 | Wolfram Groddeck: Zum Verhältnis von Close Reading und Positivismus in der Editionsphilologie

15:00-16:00 | Dina Emundts: Close reading als Methode in der gegenwärtigen Philosophie

16:00-16:30 | Kaffeepause

16:30-17:30 | Marie Guthmüller: Explication de texte – von und mit Gustave Lanson

17:30-18:30 | Jan von Brevern: Close looking: Abstandhalter im Museum

18:30-19:00 | Pause

19:00-20:00 | Anna-Lisa Dieter: Strandlektüre. Der Fall Rachel Carson

Dienstag, 26. September 2023

09:30-10:30 | Jörg Lauster: Im Schatten der Texte. Die Mühen der protestantischen Theologie mit ihren Quellen

10:30-11:30 | Rahel Villinger: "not nearly close enough" - Close Reading bei Paul de Man

11:30-12:00 | Kaffeepause

12:00-13:00 | Erika Thomalla: Die Politik des Close Reading. Derrida liest de Man

13:00-14:30 | Mittagspause

14:30-15:30 | Thomas Weitin: Digitale Literaturgeschichte. Erkenntnisse und ihre Tragweite

15:30-16:00 | Kaffeepause

16:00-17:00 | Eva Geulen: Fragmente einer fehlenden Theoriegeschichte

17:00-18:00 | Schlussdiskussion und Ausklang

Time & Location

Sep 25, 2023 - Sep 26, 2023

Literarisches Colloquium Berlin
Am Sandwerder 5
14109 Berlin

Further Information

Annika Gebhard: annika.gebhard@fu-berlin.de