Lektüregruppe | After Accumulation – How to Handle the Archive Without Getting Burned
Organisiert von Lindsey Drury, Sima Ehrentraut, Samira Spatzek und Nina Tolksdorf (EXC 2020) in Kooperation mit Karina Rocktäschel (SFB 1171 "Affective Societies").
Das Archiv als Macht-Wissen-Komplex des Sammelns, Verzeichnens und der Kategorisierung bleibt ein problematisches Konstrukt historiographischer Praxis und Erinnerungskultur. Was gesammelt und bewahrt wird, wer Subjekt oder Abjekt archivarischer Tätigkeit ist, welche Personen Zugriff auf das Gesammelte und das Recht auf Narrativierung erhalten – all dies sind Fragen, die auf die Perspektivgebundenheit des Archivs und seine Rolle in der Aufrechterhaltung kultureller und häufig nationaler Identitäten verweisen. Archivarische Praxis verfährt gleichermaßen interessiert wie selektiv. Sowohl ihre Konzeption als auch ihr Betrieb sind präfiguriert durch Kriterien kultureller Wertigkeit, identifikatorische Instrumentalisierbarkeit und ihre Passförmigkeit in Bezug auf dominierende Narrative.
Wissenschaftliche, künstlerische und aktivistische kritische Auseinandersetzungen mit dem Archiv haben den Zusammenhang von Institutionalisierung, Memoralisierung und Normierung ins Zentrum ihrer Arbeit mit und über Archive gestellt. Sie haben gezeigt, dass Archive keine Orte der neutralen Verzeichnung und Konservation kultureller Güter sind – sondern Spiegelungen hegemonialer und klassen-basierter Kulturwertgenerierung, Maschinen der Kanonisierung sowie Orte der Distribution von Zugehörigkeitsgefühlen. Ihre Institutionen, die sich in ihrem Selbstverständnis noch zu häufig als neutraler und objektiver Kulturschutz definieren, sind in ihrer Abhängigkeit von den sie einbettenden Konzepten der Geschichtlichkeit und problematischen Wissensentwürfen zu adressieren.
Hierbei wird zudem deutlich, dass eine Beschäftigung mit dem Problemfeld Archiv nicht lediglich jede historische Praxis überschreitet, sondern auch die zeitliche Konstruiertheit von Wissensgeschichte (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) implodieren lässt. Die Heterogenität des Vergangenen affiziert unaufhaltsam die Gegenwart, auch wenn institutionelle Gebilde diese pluralen affektiven Wirkungen zu kontrollieren versuchen. Wie also umgehen mit dem Archiv, das als Ort und epistemologische Praxis so eng verknüpft mit der es umgebenden gesellschaftlichen Ordnung ist und immer auch ein Schauplatz der Institution von Macht ist? Welche methodischen Anpassungen müssen sich aus dieser Reflexion für geisteswissenschaftliche Forschung ergeben?
In dieser Lektüregruppe wollen wir uns mit verschiedenen Ansätzen und Konzepten beschäftigen, die das Archiv sowohl denken als auch durchkreuzen, die nach einem Unthinking von Archiven fragen oder Positionen des Ungedachten und Unbedachten, die jenseits jeglicher Archivlogiken stehen, hervorheben. Zentrale Texte aus dem Black Feminism, aus den Queer Studies und der Dekolonialen Theorie sollen hierbei im Vordergrund stehen. Zudem wollen wir uns mit dem Konzept der Akkumulation beschäftigen. Was bedeutet es, Wissen zu produzieren, das sensibel für Formen von Akkumulation und Extraktion ist, das selbst nicht anhäufen, extrahieren, sammeln und objektifizieren will?
Beim ersten Treffen am 23.11.2022 wird es inhaltlich um Fragen zu queeren Zeitlichkeiten und zu queerer Bewegungsgeschichte gehen. Hierfür haben wir Sarah Horn eingeladen, die zu queeren Zeitlichkeiten promoviert hat.
Lektüre:
Keeling, Kara: Yet Still: Queer Temporality, Black Political Possibilities, and Poetry from the Future (of Speculative Pasts), in: Kara Keeling, Queer Times, Black Futures. New York: New York University Press 2019, S. 81-106.
Cvetkovich, Ann. 2003. 'In the Archive of Lesbian Feelings.' In: Ann Cvetkovich, An Archive of Feelings. Trauma, Sexuality, and Lesbian Public Cultures. Durham: Duke University Press, S. 239-270.
Time & Location
Nov 23, 2022 | 10:00 AM
Freie Universität Berlin
Exzellenzcluster "Temporal Communities"
Konferenzraum 00.05
Otto-von-Simson-Straße 15
14195 Berlin
Further Information
Anmeldung und Text: Karina Rocktäschel (Freie Universität Berlin), karina.rocktaeschel@fu-berlin.de