Screenings & Gespräche | Erika Runge und das systemsprengende Potenzial des Glücksanspruchs
Organisiert von Regine Ehleiter in Zusammenarbeit mit Florian Fuchs und Till Kadritzke.
Mit dem schmalen grünen Band Bottroper Protokolle (Suhrkamp 1968) prägte Erika Runge den Begriff und die Praxis der Dokumentarliteratur. Die 1939 in Halle an der Saale geborene und Ende Oktober 2023 gestorbene Fernsehregisseurin, promovierte Schriftstellerin, engagierte Feministin und Kommunistin versammelte darin acht nahezu wortgetreu aufgezeichnete Lebenserinnerungen von Menschen im Ruhrgebiet. Die vor Ort geführten Tonbandgespräche, bei deren Verschriftlichung sie den sprachlichen Stil der Interviewten beibehielt, waren ursprünglich als Materialsammlung für einen längeren Spielfilm gedacht. Als Nebenprodukt des letztlich nie realisierten Projekts entstand 1968 stattdessen der vielfach prämierte Dokumentarfilm Warum ist Frau B. glücklich? (WDR, 43 Min.), für den Erika Runge die im Buch interviewte Bergarbeiterwitwe, Hausfrau und Putzkraft Maria Bürger einlud, die Rolle ihres eigenen Lebens zu spielen.
Die Veranstaltung "Erika Runge und das systemsprengende Potenzial des Glücksanspruchs" adressiert die beeindruckend vielfältige, zwischen Künsten und Medien mäandernde literarische und filmische Praxis Erika Runges. Ab Mitte der 1990er-Jahre war die Autorin und Regisseurin, die sich eindeutigen Zuschreibungen stets entzog und früh ein Bewusstsein für die Multidimensionalität gesellschaftlicher Machtstrukturen und daraus resultierender Unterdrückungserfahrungen zeigte, als Psychotherapeutin in Berlin tätig. Im Fokus der Screenings und Gespräche steht die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen individuellem Glücksstreben und Gemeinwohl, die Runge in zahlreichen ihrer Bücher, Filme und Hörspiele wie Michael oder die Schwierigkeiten mit dem Glück (1975), Anna auf der Suche nach dem Glück (1977) und Lias Traum vom Glück (1990) beschäftigte.
Diese Möglichkeit einer politischen, systemsprengenden Kraft des Glücks sowie die damit verbundenen Denkanstöße zu einer potenziellen Neuausrichtung des Relationsgefüges zwischen Individuum und Gesellschaft machte das Berliner Künstler*innen-Duo titre provisoire (Cathleen Schuster, Marcel Dickhage), nach enger Auseinandersetzung mit Runges Arbeit und intensiven Archivrecherchen, zum Thema einer neuen künstlerischen Arbeit. Ihr Film A cold case or happiness (2023) entstand während einer Residency in Los Angeles, wurde im Sommer 2023 in einer gleichnamigen Einzelausstellung in der Halle für Kunst Lüneburg präsentiert und ist nun als Teil der Veranstaltung erstmals im Dialog mit Erika Runges Arbeiten in Berlin zu sehen.
Durch die eingeschränkte Zugänglichkeit von Erika Runges Filmen, die überwiegend für das öffentlich-rechtliche Fernsehen produziert wurden, beschränkt sich die Rezeption ihrer Arbeit noch immer primär auf ihr literarisches Schaffen. Neben bekannten Büchern wie Bottroper Protokolle (1968) and Frauen. Versuche einer Emanzipation (1969) ruft die Veranstaltung den 1976 erschienenen Aufsatz "Überlegungen beim Abschied von der Dokumentarliteratur" in Erinnerung, in dem sie unter anderem über die Rezeption und politische Wirksamkeit des dokumentarischen Ansatzes reflektiert. In Kooperation mit dem Exzellenzcluster Temporal Communities und dem Harun-Farocki-Institut, Berlin (HaFI) wurde dieser Aufsatz, auf Initiative von titre provisoire, nun wiederveröffentlicht und in englischer Übersetzung zugänglich gemacht. HaFI-Heft 020: Erika Runge: 'Überlegungen beim Abschied von der Dokumentarliteratur' / 'Reflections Upon Saying Farewell to Documentary Literature', herausgegeben von Regine Ehleiter, Clio Nicastro und titre provisoire (Cathleen Schuster/Marcel Dickhage) wird zum Abschluss der Veranstaltung öffentlich präsentiert.
Programm
Mittwoch, 29.11.202311:00-11:15 | Anmeldung und Willkommen
Teil I: A COLD CASE
11:15-11:45 | Begrüßung und Einführung durch die Organisator*innen Regine Ehleiter, Florian Fuchs und Till Kadritzke (EXC 2020)
11:45-12.30 | Screening des Films Warum ist Frau B. glücklich? (BRD, 1968, Regie: Erika Runge; Produktion: WDR; Kamera: Horst Brever, Länge: 43 min)
12:30-13:00 | Statement von Bettina Runge, gemeinsame Diskussion des Films
Moderation: Regine Ehleiter, Florian Fuchs and Till Kadritzke
13:00-14:30 | Mittagspause
Teil II: HAPPINESS
14:30-15:15 | Screening des Films A cold case or happiness (34 min.) von titre provisoire (Cathleen Schuster & Marcel Dickhage) mit kurzer Einführung durch die Künstler*innen
15:15-16:15 | Panel 1 mit titre provisoire und Ann-Kathrin Eickhoff (Ko-Direktorin, Halle für Kunst, Lüneburg) zum gemeinsamen Rechercheprozess zu Erika Runge im Kontext von titre provisoires Einzelausstellung in der Halle für Kunst, Lüneburg (06.08.–24.09.2023)
16:15-16:45 | Kaffeepause
16:45-17:30 | Panel 2 mit Sebastian Tränkle (EXC 2020) und Sarah Ralfs (Institut für Theaterwissenschaften, Freie Universität Berlin) zu Theodor W. Adornos and Bertolt Brechts Schriften zum Glück.
Im Plenum: Überlegungen zur Rezeption dieser Ideen im Werk Erika Runges
Moderation: Regine Ehleiter, Florian Fuchs and Till Kadritzke
17:30-18:00 | Launch des HaFI-Heft 020: "Erika Runge: 'Überlegungen beim Abschied von der Dokumentarliteratur' / 'Reflections Upon Saying Farewell to Documentary Literature'", präsentiert von Clio Nicastro (Harun-Farocki-Institut, Berlin und Co-Herausgeberin)
Time & Location
Nov 29, 2023 | 11:00 AM - 06:00 PM
Freie Universität Berlin
EXC 2020 "Temporal Communities"
Raum 00.05
Otto-von-Simson-Straße 15
14195 Berlin